Wilhelm Raabe: „Zum wilden Mann“ (veröffentlicht 1874)

Buchtipp – Januar 2022

Warum nicht wieder einmal zur Klassiker-Lektüre greifen? Vielleicht bietet sich Wilhelm Raabes kurze Erzählung „Zum wilden Mann“ an.

Allein der merkwürdige Titel „Zum wilden Mann“ macht neugierig. Die Apotheke in einem kleinen Ort trägt diesen Namen, spiegelt aber nicht den Charakter des Inhabers Philipp Kristeller, der sich als bedächtiger, beherrschter und äußerst genügsamer Bürger erweist.

Der auktoriale Erzähler informiert bereits zu Beginn, dass Kristeller die Apotheke seit genau dreißig Jahren betreibt. Anlässlich dieses Jubiläums sind drei befreundete Honoratioren des Ortes zu einem abendlichen Umtrunk eingeladen.

Der Förster und der Pastor erscheinen pünktlich. Kristeller offenbart ihnen sein Lebensgeheimnis. So schildert er, wie er, durch eine unverhoffte Schenkung eines größeren Geldbetrages, in die Lage versetzt wurde, eine Apotheke zu eröffnen und ein bürgerliches Leben mit bescheidenem Wohlstand zu führen.

Zu später Stunde erscheint der dritte Gast, der Mediziner, allerdings in Begleitung eines völlig unbekannten Mannes. Dieser Fremde offenbart sich als damaliger Schenker, der nun seine abenteuerliche Geschichte der letzten dreißig Jahre erzählt. Gebannt lauschen alle Anwesenden dieser unglaublichen Biographie.

So werden nacheinander zwei völlig gegensätzliche Lebenswege geschildert, der eines biederen Apothekers sowie der eines welterfahrenen Heimkehrers. Im weiteren Verlauf werden die eigentlichen Intentionen des Fremden sichtbar, die für alle Beteiligten existentiell bedeutsam werden…

Wilhelm Raabe (1831-1910), neben Theodor Fontane einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren des bürgerlichen Realismus, gestaltet die gesamte Handlung erzählerisch vielschichtig und sprachlich anspruchsvoll.

Es ist also in vielerlei Hinsicht lohnenswert, sich auf dieses Leseabenteuer einzulassen und aus heutiger Sicht die Erzählstrategie und möglichen Aussageabsichten Raabes zu beurteilen.