Verena Lueken: „Alles zählt"

Buchtipp – Mai 2016

Bisher war Verena Lueken vor allem als Kulturredakteurin der FAZ bekannt. Ihr literarisches Debüt erzählt von einer bemerkenswerten Frau, die angesichts einer Krebserkrankung reflektiert, was ihrem Leben Halt gibt.

„Alles zählt“ (Buchcover), KiWi-Verlag

Verena Lueken eröffnet ihren Roman mit einem Zitat von James Salter, das in vielerlei Hinsicht programmatisch für ihr Buch ist: Es reißt den Ort der Handlung an (New York), die Jahreszeit, in der sie einsetzt (Sommer), das gnadenlose Wetter (brüllende Hitze) und das Thema Tod. Die namenlos bleibende Protagonistin ist nach zwei vermeintlich erfolgreichen Operationen und Therapien erneut an Lungenkrebs erkrankt. Ohne jede Sentimentalität erzählt Lueken von den organisatorischen Vorbereitungen für die Aufnahme in das „berühmteste Krebskrankenhaus der Welt“, von der Operation, der Wirkung der Opiate, dem Versagen der Schmerztherapie. Die Protagonistin überlebt ein drittes Mal.

Mindestens ebenso programmatisch ist jedoch die Tatsache, dass Verena Lueken ihren bei Kiepenheuer & Witsch 2015 erschienenen Roman mit den Worten eines Schriftstellerkollegen eröffnet. Ihr Buch ist auch und vor allem eine Hommage an die Literatur. Gleich nach ihrer Ankunft hat die Protagonistin sich etliche Bücher gekauft, die sie während ihrer Wochen in New York begleiten sollen. Durch die neuerliche Krebsdiagnose wird ihr Blick als Leserin fokussiert. Bestimmte Sätze gewinnen an Bedeutung. „Sie hatte kein Archiv der eigenen Gedanken, der eigenen Sätze“, heißt es im Text. Die fremden, geliehenen Sätze ordnen ihre Gedanken über den Tod und das Sterben und verleihen ihnen Ausdruck. Sätze aus Büchern und Textzeilen aus Popsongs begleiten sie über das Eingangszitat hinaus durch die Wochen der erneuten Erkrankung. Sie binden die Frau, die nach der Operation physisch ganz dem Schmerz ausgeliefert ist, in eine Gemeinschaft der Wörter und Sätze ein, die sie mit deren Verfassern verbindet. Es sind Sätze, die Trost spenden. Die Autoren dieser Sätze nennt sie in Gedanken beim Vornamen wie enge Vertraute.

Der Roman erzählt aber nicht nur von einer lebensbedrohlichen Krankheit. Er stellt auch die enge Beziehung zur Mutter der Protagonisten in den Mittelpunkt, einer gebildeten Frau, die ein für ihre Generation ungewöhnlich selbstbestimmtes Leben führte. Die emotionale Verbindung zu dieser Mutter ist so stark, dass sie über deren Tod hinaus trägt. Trost und Haltung spenden zudem einige starke, glückliche Erinnerungen, die die Protagonisten in den schwersten Phasen der Therapie beschwören kann.

Verena Luekens Geschichte einer Rettung durch die Literatur und durch das Erinnern setzt nicht nur auf das Erkenntnis vermittelnde Potential von Literatur. Nach der Lektüre des schmalen Romans bin ich zudem geneigt, auch an ihr Trost spendendes Potential zu glauben. Die Schriftstellerin darf sicher sein, dass Formulierungen aus ihrem Roman in die individuellen Gemeinschaften der Sätze vieler Leser aufgenommen werden. Vielleicht nennen manche von ihnen sie in Gedanken sogar beim Vornamen, wenn sie an die Sätze des Romans denken, die für ihr Leben bedeutsam geworden sind. Das würde ihr bestimmt gefallen.

Von Monika Eden, Literaturbüro Oldenburg