Vendela Vida: „Des Tauchers leere Kleider“

Buchtipp – August 2016

„Sie werden diesen Roman nicht beiseite legen können. Und dann werden Sie dasselbe seltsame verschmitzte Lächeln im Gesicht haben wie ich.“ (Rachel Kushner)

© aufbau Verlag

„Das Erste, was man bei der Ankunft in Casablanca tun sollte, ist, Casablanca wieder zu verlassen“, rät der Reiseführer Marokko den Ankommenden. Ein Grund zur Ärgernis für die aus Florida anreisende Frau, hat sie doch schon für drei Nächte im Voraus das Hotel gebucht. Was sich ihr dann aber bietet, ist mehr als das räumliche Verlassen eines Ortes oder einer Person: Schon beim Check-in wird ihr der Rucksack mit all den Habseligkeiten gestohlen, die sie identifizieren können. Was für die meisten Menschen ein Worst-Case- Szenario beim Reisen in ferne fremde Länder darstellt, entpuppt sich für die junge Amerikanerin als Möglichkeit, alles Vergangene hinter sich zu lassen. Denn was nützt schon die eigene Identität, wenn man die, die man ist, gar nicht sein möchte? Wenn man das Worst-Case- Szenario schon durchlebt?

Die US-amerikanische Autorin Vindela Vida entspannt in ihrem neuen Roman ein mysteriöses Identitätsspiel. An der Schwelle von Verzweiflung und gewitztem Spiel lässt sie ihre Protagonistin durch Rollen tanzen, die ihr eine Flucht vor dem eigenen Leben ermöglichen. Ob als Double einer berühmten Filmschauspielerin oder als fotografisch interessierte Touristin: Casablanca eignet sich dabei hervorragend als Kulisse. Von der Hitze erschlagen, wird das Wahrgenommene schnell schummrig, das Gedachte schnell real. Durch solch hitzig-fatales Wirrnis teilt sich Vidas Roman den Strandkorb mit Prosastücken wie Wolfgang Herrndorfs „Sand“, Albert Camus’ „Der Fremde“ oder Françoise Sagans „Bonjour Tristesse“ – Erzählungen, die sich wie Ikarus an die Sonne trauen und dabei das Fragende, die Uneindeutigkeit nicht nur in Kauf nehmen, sondern feiern.

Nur nach und nach lässt Vida die eigentliche Motivation ihrer Protagonistin an die

Oberfläche kommen. Während sie sich von außen immer mehr Schichten Make-Up auflegt, um ihr eigenes Ich zu kaschieren, kann sie doch nicht unter Verschluss halten, welch Trostlosigkeit sie hinter sich gelassen hat und nach wie vor mit sich trägt. Vida gelingt es, einen Sog zu entfalten, der die Leserin mitfühlen lässt. Und das, obwohl die Erzählerin mit allen Mitteln der literarischen Kunst versucht, eine ambivalente Distanz zu bewahren. So trägt nicht zuletzt die Erzählform der 2. Person Singular dazu bei, dass die Protagonistin sich zwar erschreckend aufdrängt, aber doch nur schemenhaft wahrgenommen werden kann. „Des Tauchers leere Kleider“ ist ein irrsinnig tragikomisches und schelmisch zwinkerndes Plädoyer für das Wagnis, für den Sprung:

»An der Stelle, wo NICHT VOM BECKENRAND SPRINGEN steht, machst du einen
Kopfsprung ins Wasser, und ohne ein einziges Mal Luft zu holen, tauchst du bis zur anderen Seite durch.«