Judith Hermann "Wir hätten uns alles gesagt"

Buchtipp – Februar 2024

Trifft eine Schriftstellerin ihren Psychoanalytiker in einem Kiosk – und beschließt, von ihm zu erzählen. So beginnt Judith Hermanns neuer Band "Wir hätten uns alles gesagt" (S. Fischer 2023).

Trifft eine Schriftstellerin ihren Psychoanalytiker in einem Kiosk – und beschließt, von ihm zu erzählen. So beginnt Judith Hermanns neuer Band Wir hätten uns alles gesagt (S. Fischer 2023). Noch nicht lang ist es her, dass ihr vielbe­sprochener Roman Daheim erschienen ist. Im neuen Buch spricht Hermann nun von Familienbanden und Freund­schaften, Sommern am Meer und dem, was all dies zusammenhält: dem Schrei­ben und Verschweigen.

»Ich schreibe über mich. Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht«, heißt es in ihrem Text. Doch was bedetet das? Erlebtes und Erzähltes verschwimmen ineinander, Erlebtes wird neu erlebt, wenn es erzählt wird, Fiktion fühlt sich manchmal echter an als Reales und so mancher Satz - vor mehreren Jahrzehnten auf Papier getippt - kommt eines Tages wie aus dem Nichts zu einem zurück, und offenbart sich neu. Wie keine andere weiß Hermann von diesem Dazwischen zu erzählen, von dem Uneindeutigen, von dem Mehr-als, das sich den gängigen Kategorien von wahr und falsch, von echt und unecht enzieht.

In Wir hätten uns alles gesagt spricht Hermann von dem, wovon die meisten Schriftsteller:innen schweigen: dem Schreiben selbst. Davon, wie Figuren geboren werden, wie sich Handlungen entwickeln, aus einzelnen Sätzen, Wörtern, ja Buchstaben heraus, die ineinander verlaufen wie Aquarellfarben und die eine eigene Dynamik, ein eigenes Dasein entwickeln. Worte als chemische Elemente, die miteinander reagieren, Hermann als Beobachterin und ganz am Anfang ein Satz, der der Geschichte ihre Richtung gibt. Ein Satz, um den sich alles ringt und von dem sich alles rekonstruieren lässt. Ein Satz, von dem sie schreibt, dass ihre Leser:innen nach ihm suchen, einige ihn entdecken und Hermann selbst ihn in einer Erzählung manchmal nicht mehr finden kann.

Wir hätten uns alles gesagt ist eine Offenbarung, ein Demaskieren der Literatur, die bis in ihre Anfänge, in ihr erstes Erwachen und Erwachsen zurückverfolgt wird. Diese Entkleidung hat jedoch nichts mit einer Entzauberung zu tun, im Gegenteil: Im Schreiben vom Schreiben gewinnen alte Geschichten an Tiefe und neue tun sich auf - nicht zuletzt, weil der berühmte Judith Hermann-Sound es vermag, den alltäglichen Beobachtungen etwas Besonderes, etwas Bedeutsames zu verleihen. Hermann gelingt damit einmal mehr ein Werk, das fasziniert. Unbedingt lesenswert!