Buchtipp des Monats
Barbara Sichtermann: "Viel zu langsam viel erreicht"
Buchtipp – März 2018Ein Buch, das alle haben müssen. Denn es geht um unsere Freiheit. Ein aussagekräftiger, gut geschriebener Essay über den Prozess der Emazipation, über den Zustand unserer Gesellschaft und über ihre Perspektiven.
Barbara Sichtermann hat schon früher wegweisend darauf hingewiesen, dass das Private politisch ist: Die meisten Frauen könnten ein Lied davon singen. Wird zum Beispiel heute doch stets betont, dass es für Frauen in Deutschland leichter werden muss, Familie und Beruf zu verbinden. Warum gilt das eigentlich nicht für Männer? Frauen sind überdurchschnittlich von Altersarmut bedroht. Die Teilzeitjob-Falle ist unter anderem schuld. Das kann ja nun auch nicht alleine an den Männern liegen. Doch am Arbeitsmarkt lässt sich sie unterschiedliche Verantwortung und Teilhabe von Frauen und Männern an der Gesellschaft vielleicht am leichtesten ablesen. Doch was heisst das?
Befinden sich Frauen heute im Schonraum und Männer im Existenzkampf oder opfern Frauen sich auf und Männer tun sich wichtig? Und wie sollte man das ändern? Und will es denn jemand ändern? Eigentlich möchte man einfach drauf los leben und die Frage nach Geschlechtergerechtigkeit beherzt links liegen lassen. Doch irgendwann kommt man an die Grenzen der Freiheit. Sei es, dass eine junge Frau nicht ernst genommen wird oder eine alte abgeschrieben, ein Mann sich überfordert und unverstanden fühlt oder mit 60 - endlich - aus der Rolle fällt. Allzuoft aber in Perspektivlosigkeit, weil starke, positive Bilder jenseits der ausgetretenen Pfade fehlen. Wir sehen: Es ist komplexer.
Was sich aktuell in Deutschland bei jeder Diskussion zu Geschlechtergerechtigkeit oder Sexismus, Emanzipation oder Freizügigkeit zeigt: Wir stehen vor einem regelrechten Dschungel von Normen, persönlicher Verfassung, womöglich Zufällen, Ansprüchen und Wirklichkeit der jeder und jedem einzelnen von uns erdrückend vorkommen mag. Oft endet die Debatte in Ratlosigkeit, biologistischen Zuschreibungen, unsinnigen Forderungen und fataler Weise sogar nach mehr Kontrolle durch die Obrigkeit. Könnte man das Geschlecht nicht einfach völlig ignorieren? Nach dem Motto: Was es nicht gibt, kann auch keine Probleme machen. All diese Versuche klar zu kommen, führen jedoch weg vom gesellschaftlichen Kern des Problems, in die Idee des Individualismus und individuellen „Geschlecht-Designs“ und lässt vergessen, dass Wirtschaft, Politik, Normen, Tradition und eine gewisse Trägheit aller, die Ursache für das sein muss, was wir vorfinden. Wir müssen wohl in den Wald, um Bäume zu sehen.
Barbara Sichtermann bahnt uns mit ihrem Essay einen Weg durch den Dschungel unserer vermeintlich post-emazipatorischen Zeit: Sie findet neun hochinteressant definierte Kategorien, anhand derer sie sehr konkret zeigt, wo der Hase im Pfeffer liegt: Räume, Bezogenheit, Gewalt, Macht, Liebe, Sexualität, Geist, Arbeit, Schönheit. Das überrascht und macht neugierig. Und man liest die 150 Seiten beglückt in einem Zug.
Sichtermanns Betrachtung schaut in alle Richtungen: Der analytische Blick zurück ist da genauso hilfreich, wie die Analyse der Gegenwart. So entstehen auch Perspektiven. Zudem wird uns beim Lesen bewusst, dass wir noch am Anfang stehen und er nervende wie beglückende Prozess der Emanzipation lange nicht abgeschlossen ist.
Dabei kann einem allerdings auch manchmal etwas elend zumute werden. Vor allem, wenn man sieht, wie schwierig es ist, die letzte Bastion der Patriarchen, die man doch bereits für ein „Auslaufmodell“ hielt, den Geist, zu erobern. Interessant ist noch einmal zu lesen, dass erst das 19. Jahrhundert Frauen zu den tierhaften Triebwesen stempelte, die angeblich zu keiner eigenständigen Geistesleistung fähig wären. Daran kauen wir offenbar noch heute. Hundert Jahre zuvor, zur Zeit der Aufklärung und großen Freiheitsbewegungen war man da schon weiter.
Nur ein einziges Mal rutscht Sichtermann selbst ein Klischee aus der Feder: Als es um die Arbeit der Mütter geht. Doch das ist ein lässlicher Lapsus. Denn ein weiterer großer Pluspunkt des Buches ist, dass es nicht polarisiert, sondern Männer wie Frauen nüchtern betrachtet. Deswegen ist es ein Buch für alle und ein Buch, das alle haben müssen: Schenken sie es bei nächster Gelegenheit nicht nur Ihrer Tochter oder Nichte, sondern auch Ihrem Sohn, Tante, Onkel, Vater, Mutter, Nachbarn - und sich selbst! Es lässt sich, nebenbei gesagt, auch sehr gut lesen. Barbara Sichtermann schreibt einfach gut.
Barbara Sichtermann: Viel zu langsam viel erreicht. Über den Prozess der Emanzipation. zu Klampen, Springe 2017, Hardcover € 18,- / e-pub € 13,99.