Buchtipp des Monats

Buchtipp – Oktober 2022

Yade Yasemin Önder "Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron"

Für ihr hervorragendes Romandebüt hat die Autorin den Nicolas-Born-Debütpreis 2022 des Landes Niedersachsen erhalten.

Wenn man viel lesen will und muss, kann es sein, dass man irgendwann den Texten nicht mehr gerecht wird und bestenfalls mit Gleichmut an jedes Buch herangeht. Doch dann kommt ein Stück Literatur, in dem schon der erste Satz umwerfend ist.  „Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“ ist so ein Buch: Schlägt man es auf, kippt man aus der Betrachtung direkt in den Orbit der Welt, die Yade Yasemin Önder geschaffen hat. Und landet bei einer kleinen Familie auf einer Wiese, im Jahr nach der Tschernobyl-Nuklearkatastrophe. Schon auf den ersten Seite des Romans deutet sich alles an, was später eine Rolle spielen wird. Mit Spannung liest man, gleichzeitig ein wenig ängstlich, was Gras, Moos und Familie hervorbringen werden oder verschlucken. Soviel ist klar: Die  Wiese ein unsicherer Ort und der Platz, der denen bleibt, die keinen besseren bekommen können.

Erzählt ist die Geschichte in einem ganz eigenen Ton: Tastend, manchmal mutig durch die Zeiten springend, fügt sich Fragment an Fragment zum Panorama einer Jugend, die von einer Essstörung geprägt ist. Die Geschichte ist hart, die Sprache schön, auch schön drastisch und so direkt wie humorvoll. Ein Erzählen, das bei den Menschen bleibt und sie zugleich wie durch Glas betrachtet. Es ist ein Buch über das Leben junger Frauen in der Bundesrepublik Deutschland am Ende des letzten Jahrhunderts, eine Geschichte über die öffentliche Verfügbarkeit weiblicher Körper, die Abwertung weiblicher sexueller Kraft, die Selbstbehauptung, den Ekel, Stoizismus, Hilflosigkeit und Selbstermächtigung und auch über soziale Herkunft.

Manchmal reimt sich der Text, insbesondere wenn das Erzählte schwer erträglich wird. Und wie bei Raymond Queneaus "Stilübungen" wird eine Begebenheit immer wieder neu erzählt. Önder nutzt dieses Verfahren, um ihrer Ich-Erzählerin Distanz zu zerstörerischen Erfahrungen zu gestatten. Und auch uns Leser:innen lässt sie so Raum, das schwer Erträgliche zu ertragen. Eine große Stärke dieser Erzählweise ist auch, dass sich die Rollen komplex und mit manchem Widerspruch spiegeln lassen. Dass sich etwas zunächst normal anfühlt, bis man merkt, das diese Norm aus Zumutungen besteht und nicht gelebt werden kann.

„Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“ ist ein Adoleszenz-Roman, ein Familiendrama mit grotesken Zügen, eine facettierte Betrachtung fataler Sozialisierung junger Frauen, eine Krankheitsgeschichte und mehr. Doch vor allem überraschende, überzeugende Literatur! Yade Yasemin Önders eigener Ton, ihre Fabulierkunst, ihr abgründiger Humor und die überzeugende Erzählhaltung sind etwas Besonderes. Unbedingt lesen!

Von:Kathrin Dittmer, Literaturhaus Hannover