Buchtipp des Monats

Buchtipp – Februar 2017

Thomas Melle: "Die Welt im Rücken"

"Thomas Melle sprengt alle Muster" (Zeit online), das Feuilleton überschlägt sich vor Lob, sein neustes Buch stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und ist schon lange kein Geheimtipp mehr. Aber so gut, dass auch wir es unbedingt empfehlen müssen.

©Rowohlt Berlin

The Elephant in the Room nennen es die Engländer_innen: Etwas offensichtlich Schweres steht im Raum, aber niemand spricht darüber. Vielleicht ist der dicke Elefant allen peinlich. Vielleicht stampft er quer durchs Porzellanhaus, bis es unter seinen Füßen knirscht. Thomas Melle lebt mit diesem Elefanten seit Jahren. In seinem autobiografischen Buch erzählt er jetzt die Chronik der eigenen manisch-depressiven Erkrankung als Tragödie und „existenziellen Slapstick“ zugleich. Ein Versuch, die eigene zersplitterte Vergangenheit aufzusammeln und zu einem Kontinuum zusammenzufügen. „Die Welt im Rücken“ sind dabei wir, die applaudierenden Voyeure. 1999, als Thomas Melle 24 ist, beginnt die Katastrophe mit einem kleinen Gefühlsüberschuss. Melle verschafft sich Zugang zu einem Internetforum für Gegenwartsliteraten und postet im Namen von Christian Kracht und Judith Hermann überdrehte Einträge. Die ufern in einer großen Egoerzählung aus. Melle beginnt, die Welt umzudeuten: Was ist, wenn die Forenbeiträge der anderen aus geheimen Codes bestehen, die sich unausgesprochen auf ihn beziehen? Er liest alle Zeichen und Nachrichten neu. Was ist, wenn es im Internet, in den Zeitungen, im Fernsehen und im Geflüster auf der Straße um ihn geht? Er durchforstet die Geschichtsbücher und stellt fest, dass er allgegenwärtig ist, dass die Welt mit ihren Botschaften schon immer nur ihn gemeint hat. Alles hat sich gegen ihn verschworen. Aber er ist der neue Messias. Mit dieser Weltsicht im Kopf ist Thomas Melle schon bald „eine Tragödie aus Hulk und Hybris“, er irrt, rast und schreit durch die Stadt, stürzt in Kneipen ab und kippt Picasso im Berghain Rotwein über die Hose. In solchen Szenen beschreibt Melle seine verzerrte Weltwahrnehmung rückblickend mit größter Unmittelbarkeit. Sätze wie „Delfine sprangen mir aus dem Mund, und farblose, grüne Ideen schliefen wieder furios“ sprengen die Grenzen des Greifbaren. An anderen Stellen erzählt er aus analytischer Distanz von seiner Wirkung auf die Außenwelt, von einer Krankheit, die ständig droht und ihn in immer längeren Schüben überkommt. „Die Welt im Rücken“ ist eine Selbsterkundung, sie führt ihrer Leserschaft auch die eigenen Abgründe vor. Wir werden zu Voyeuren gemacht, die über den Elefanten in der Manege lachen, bis dieses Lachen irgendwo stecken bleibt. Denn die Gewissheiten, auf denen unsere eigene Weltsicht beruht, geraten allmählich ins Wanken, und der Wahn scheint auch den Voyeuren plötzlich gar nicht mehr so fern zu sein.

Thomas Melle: "Die Welt im Rücken", Berlin 2016, Verlag Rowohlt Berlin

Von:Freya Morisse, Literarisches Zentrum Göttingen