Buchtipp des Monats

Buchtipp – Oktober 2014

Silke Scheuermann "Skizze vom Gras"

Silke Scheuermanns Gedichtband wird sich als richtungsweisendes Buch für die zeitgenössische Lyrik erweisen. Die 1973 geborene Autorin schreibt Prosa und Lyrik. Für "Skizze vom Gras" erhielt sie im Herbst 2014 den Hölty-Preis für Lyrik Hannover.

© Schöffling & Co.

In sieben Kapiteln, denen sie das programmatische Gedicht "Die Ausgestorbenen" voranstellt, erzählt Silke Scheuermann Schöpfungsgeschichten, deren Ambivalenz flimmernd, berührende Gegenwart schafft: Evolutionsgeschichte, Genetische Forschung und Kunstgeschichte sind die Ausgangspunkte ihrer manchmal sarkastischen, manchmal schmerzlichen Reflexionen. Mit dem zarten, auch zeitweilig hohen Ton, der Silke Scheuermanns Lyrik auszeichnet, entsteht so Kunst, deren Spannung man sich nur schwer entziehen kann. Silke Scheuermann komponiert  - nicht zuletzt durch die strenge Auswahl der Gedichte - hier nichts weniger als meisterhafte Zyklen über die Bedingungen unserer heutigen Existenz. Besonders berührend ist sicherlich das Kapitel "Zweite Schöpfung", das Schönheit und Verwüstung unserer Gegenwart, fast gnadenlos, ins Licht setzt. "Es ist wahr, man kann zu verträumt sein / zum Überleben. Neben dir spazierten immer / mehrere Himmel einher. Ausschließlich / freundliche andere Arten. Nun ja - bis wir kamen. / Gott hat uns Wut geschenkt, dieses starke Gefühl / ohne Richtung und Nutzen, und Appetit. ...", heisst es im kürzesten und wohl sarkastischsten Gedicht "Dodo", und später "... Du, Dodo, / bist dann rasch verschwunden, in diese andere Welt, / in der Alice ewig versucht, von dir Wunderland-Spiele / zu lernen. Aber uns reicht das nicht, wir wollen / dich wieder. Niedlich, naiv, mit deinen treudoofen Nestern / am Boden. Als harmlosen Kameraden für unsere Kinder / denken wir dich. Glaub mir: Wir sind fast so weit. ..." Der Dodo, ein flugunfähiger Vogel, der auf den Inseln Mauritius und Réunion beheimatet war und keine Fressfeinde kannte, wurde buchstäblich aufgegessen, sein Gelege verzehrt: Von europäischen Siedlern, deren Haustieren und anderen eingeschleppten Tieren. Er lebt nur noch in der Literatur. Lewis Carroll lässt ihn in "Alice in Wonderland" auftreten, nachdem er schon rund 200 Jahre als ausgestorben galt. Silke Scheuermanns lyrisches Ich verspricht ihm nun eine Wiederauferstehung anderer Art, als Klon und dienstbares Spielzeug. Hier tritt von allen im Band versammelten Gedichten, die Vielschichtigkeit und der Reichtum der Texte am kühlsten hervor: Die Beschämung des Verlustes, die Beschämung der Verlorenen, die Hybris der Selbstermächtigung ohne Selbsterkenntnis. Und doch auch Verheissung und Lust am Risiko. Wer auch immer Silke Scheuermann einen Märchenton nachgesagt hat, hat nicht genau hingehört, vielleicht auch nur die dunkle Ambivalenz unserer Märchen vergessen. Hier befinden wir uns nicht in einem Traumreich, hier raunt nichts durch die Zeilen. Im Gegenteil: Dieser lyrische Kosmos ist ein lebensgefährliches, von den Schrecken unserer Gegenwart aufgewühltes Gelände, das doch von Schönheit durchzogen ist, in dem die Dichterin gelassen steht und sich allem, auch dem Schmerz, ohne Rücksicht aussetzt. Dafür  - und für diese Gedichte - muss man Silke Scheuermann dankbar sein. "Skizze vom Gras" ist 2014 bei Schöffling & Co. erschienen, wo auch das Werk von Paulus Böhmer verlegt wird, der 2010 ebenfalls den Hölty-Preis erhielt.

Von:Kathrin Dittmer, Literaturhaus Hannover

Links: http://www.schoeffling.de